Ansprache bei der Votivmesse für Volk- und Vaterland von Pfr. Dr. Roland Graf
„Jeder achte nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das des anderen.“ (Phil 2,5) Diese Anweisung aus der heutigen Lesung hat der Apostel Paulus der Gemeinde in Philippi geschrieben. Egoismus hat es schon damals gegeben. Zweifellos hat der Apostel diese Anweisung aus dem Gebot der Nächstenliebe, das Jesus gelehrt hat, abgeleitet: „Liebe Deine Nächsten wie dich selbst.“
Am heutigen Bundesfeiertag schauen wir auf die Präambel der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, die seit der ersten Fassung von 1848 „Im Namen Gottes des Allmächtigen“ beginnt. Die Präambel wurde bei der Totalrevision 1999 gegenüber den früheren Fassungen ausgeweitet. Da wird der Wille des Schweizervolkes und der Kantone bekundet, „in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben.“ Und am Schluss hält die Präambel fest, „dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen“.
1999 sind also diese Worte, die man durchaus als Entfaltung der erwähnten Anweisung des Apostels Paulus betrachten könnte, in unsere Verfassung gelangt. „Jeder achte nicht nur auf das eigene Wohl, sondern auch auf das des anderen.“ (Phil 2,5)
Das Wohl des anderen, unser Wohl war zweifellos das Ziel der Schutzmassnahmen, die ab Mitte März bis kurz vor Pfingsten besonders einschneidend waren. Laut Bundesrat waren diese Massnahmen nötig, „um die besonders gefährdeten Personen zu schützen“. Zweifellos sind dadurch Menschenleben gerettet worden.Es muss aber auch daran erinnert werden, dass unsere Regierung, namentlich unser Gesundheitsminister, andere Bereiche des Lebensschutzes überhaupt nicht mehr im Fokus hat. Während mehreren Wochen wurde, das Ärzte- und Pflegepersonal ausgenommen, alle potenziell tödlichen Coronavirus-Träger von Besuchen in Alters- und Pflegeheimen ferngehalten. Zugleich gewähren zahlreichen Institutionen den sog. Freitodbegleitern Zutritt, wenn sie mit der tödlichen Dosis für den assistierten Suizid anrücken. Der Kanton Waadt hat die öffentlich finanzierten Alters- und Pflegeheime per Volksabstimmung sogar verpflichtet, die todbringenden Angestellten von Exit oder Dignitas hineinzulassen. Allein im Jahr 2018 zählten die Sterbehilfeorganisationen in der Schweiz 1’475 assistierte Suizide. Das Wohl der physisch oder psychisch Kranken sollte uns am Herzen liegen. Besuche sind für die Unterstützung der Kranken sehr wichtig. Für mich besteht kein Zweifel, dass die Präsenz der Angehörigen und Bekannten eine grosse Hilfe ist vor allem für das psychische Befinden der Kranken. Jesus identifiziert sich in seiner Rede vom Weltgericht bekanntlich mit den Kranken und fasst dann zusammen: „Was ihr für den geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Dass die Hilfe am Kranken darin besteht, sich selbst zu beseitigen, steht zweifellos nicht im Einklang mit dem Evangelium. Die Besuche während des Corona-lockdowns allerdings wurden zeitweise so stark eingeschränkt, dass wir Seelsorger nicht einmal im Fall einer psychisch schwer leidenden Person im Spital in Einsiedeln zugelassen wurden – selbst nach Rücksprache mit den behandelnden Ärzten wurde das kategorisch ausgeschlossen (Anm. im Spital Schwyz war das möglich). Die Krankensalbung, die Spendung der hl. Kommunion sollte doch in einem solchen Fall bei Einhaltung der Schutzmassnahmen möglich sein. Diese seelsorgliche Notwendigkeit (im wahrsten Sinn des Wortes) muss immer, in jeder Lage zugelassen sein. Natürlich hoffen und beten wir, dass wir nicht mehr in den gleichen Zustand zurückfallen, wie im März/April und sich so etwas nicht wiederholt.
„Die Stärke des Volkes misst sich am Wohl der Schwachen.“ Zu den Schwächsten in unserer Gesellschaft gehören zweifellos die Kinder im Mutterleib. Mit Blick auf die Statistik ist der Mutterleib ein äusserst gefährlicher Aufenthaltsort des Menschen. 2018 gab es 10’408 Schwangerschaftsabbrüche in der Schweiz. Das betrifft jedes 10. Kind, davon 528 nach der 12. Schwangerschaftswoche. Prävention? Staatliche Hilfe für schwangere Mütter in Not? Haben Sie schon einmal einen Werbespot des Bundesamtes für Gesundheit gegen Abtreibungen gesehen? Fehlanzeige! Abtreibungen wurden in der Zeit als nicht notwendige Eingriffe in Spitälern verboten waren, sogar zu den medizinisch notwendigen Eingriffen gezählt.
Wenn von den Schwächsten in unserer Gesellschaft die Rede ist, müssen wir auch auf die neueste Statistik (2018) über die assistierte Fortpflanzung schauen. Im Vergleich zum Jahr 2016, dem letzten vollständigen Jahr, indem noch das alte FMedG angewandt wurde, hat sich die Zahl der entwickelten Embryonen fast verdoppelt (33’945) und jene der vernichteten Embryonen vervierfacht (12’884). Die Zahl der tiefgefrorenen Embryonen explodierte auf das 26-Fache (10’766)! Der absolute Hochrisikoaufenthaltsort des Menschen in der Schweiz ist somit die Petrischale, gefolgt vom Tiefkühlbehälter! Nur ist das vielen Bürgerinnen und Bürgern gar nicht bewusst, weil es keine Medienmitteilungen gibt, wenn solche Statistiken herauskommen. Die werden, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, auf der Webseite des Bundesamtes für Statistik hochgeladen. Umgekehrt werden wir tagtäglich darauf aufmerksam gemacht, wieviele COVID-19-Ansteckungen es in der Schweiz gegeben hat. Daran zeigt sich, wie einseitig der Schutz des Lebens in der Schweiz geworden ist. Wir haben allen Grund am heutigen Tag für Volk und Vaterland zu beten und die hl. Messe zu feiern. Rufen wir auch den hl. Bruder Klaus, unseren Landespatron an, damit die Einsicht wächst, dass das Leben des Menschen in unserem Land in allen Phasen seines Lebens geschützt werden muss. Amen.